Heute habe ich eine Geschichte für dich. Die Ursprungsidee ist mir einige tausende Kilometer entfernt von hier gekommen. Mitten im Dschungel. Inn einem kleinen Dorf an der Elfenbeinküste.
In diesem Jahr war ich beruflich im Sommer zwei Wochen lang in Afrika. Wir haben dort von der Gemeinde, in der ich arbeite, seit einiger Zeit eine Nord-Südpartnerschaft. Das bedeutet, dass wir mit einer afrikanischen Kommune zusammenarbeiten und von einander lernen. So durfte ich in diesem Jahr an einer Konferenz in Togo teilnehmen und im Anschluss Assié-Koumassi besuchen. Das war ein wirkliches Abenteuer. Die Menschen haben uns unglaublich herzlich empfangen. Manche haben nie zuvor einen Menschen mit heller Hautfarbe gesehen. Und die Menschen dort haben wirklich wenig. Dennoch haben sie uns mit so viel Gastfreundschaft und Freude bei sich aufgenommen, dass es mich sehr berührt hat. Und genau in dieser Zeit ist mir der Grundgedanke für die Geschichte Genug gekommen.
Wir haben Fußbälle dabei gehabt und wenn wir einem Dorf ein, zwei Bälle geschenkt haben, haben sich die Jugendlichen so unendlich gefreut. Über einen Ball! Das hat mich sehr nachdenklich gemacht und meine Gedanken sind in diese Geschichte mit eingeflossen. Ich wünsche dir viel Freude beim Lesen. Und solltest du die Geschichte hören wollen, hat der wunderbare Uwe Merz sie hier für dich eingesprochen.
Ich sende dir ein Lächeln.
Chrissi
Genug
Wenn der Advent beginnt, weht durch das Haus immer ein ganz besonderer Duft. Die Zimmer duften mit einem Mal nach Plätzchen und Zimt. Nach reifen Orangen und Tannengrün und ja auch nach Geheimnissen und Erwartungen.
Und niemand nimmt diese herrliche Duftmischung deutlicher wahr, als die achtjährige Lena und ihr jüngerer Bruder Max. Die Vorweihnachtszeit ist einfach magisch. Morgen für Morgen laufen beide zu ihren Adventskalendern, von denen jeder gleich drei hat: einmal Schokolade, einmal einen Selbstbefüllten von Mama und dann noch jeweils einen von Onkel Lars. Manche in Lenas Klasse haben sogar fünf Kalender. Da findet sie ihre drei schon fast ein wenig unfair.
Ja, unfair. Wenn Lena darüber nachdenkt, war in diesem Jahr auch der Nikolaus ein wenig geizig gewesen. Er hatte ihr nur fünf Geschenke gebracht und die neue Mütze hatte sie sich nicht einmal gewünscht. Ihre Banknachbarin Leonie hatte acht Geschenke bekommen und Lukas hatte zwar nur vier bekommen, dafür war eines aber echt superteuer gewesen. Einhundert Euro hat er erzählt.
Daran muss Lena gerade denken, beim Wunschzettelschreiben. „Vielleicht schreib ich dem Christkind zur Sicherheit, dass ich mindestens zehn Geschenke möchte? Oder besser zwölf?“, überlegt sie. Max neben ihr malt seine Wünsche auf ein Blatt Papier und schneidet dazu aus Werbeblättchen weitere Geschenkideen aus. Sein Blatt sieht schon ganz bunt aus, so groß ist seine Wunschliste.
„Ja, ich denke zwölf sollten es mindestens sein. Und eines davon soll hundert Euro kosten.“, murmelt Lena.
„Was soll hundert Euro kosten?“, fragt Mama und stellt ein paar Plätzchen auf den Tisch.
„Eins der Geschenke vom Christkind. Der Lukas hat sogar vom Nikolaus eines bekommen, das hundert Euro gekostet hat. Da war der Nikolaus bei uns ganz schön geizig.“, sagt Lena.
Ihre Mama legt den Kopf schief. Das kennt Lena schon. Dann denkt sie immer besonders intensiv über eine Antwort nach.
„Hmmm.“, macht sie nach einer Weile. Und dann noch einmal „Hmmmm.“
„Was hmmmmst du denn?“, fragt Max und legt die Schere beiseite mit der er gerade ein ferngesteuertes Auto ausgeschnitten hat.
„Darf ich eure Listen mal sehen?“, fragt Mama. Beim Durchlesen der Wunschzettel gibt sie noch zwei weitere Hmmms von sich.
„Ich bin noch nicht fertig.“, beeilt sich Lena zu sagen. „Es sind erst zehn Wünsche. Ich will aber mindestens zwölf. Dann habe ich bestimmt die meisten Geschenke in der Klasse. Dann kann dieses Mal Lukas nach den Ferien neidisch sein.“
Ihre Mama seufzt und ließ die Zettel sinken. „Ich denke, ihr habt genug.“
Max schüttelt energisch den Kopf und hält das Werbeheft hoch. „Ich schneid noch mindestens dreiundzwölfzig Sachen aus.“
Lena zieht ihren Wunschzettel rasch zurück und ergänzt noch um ein Nintendospiel und ein Puzzle mit Glitzereffekt.
„Mäuse, es ist wirklich genug.“, seufzt Mama, während Max eifrig weiter ausschneidet und Lena doch noch drei weitere Wünsche einfallen.
„Genug gibt es nicht, sagt Lukas.“, erklärt Lena. „Weil man immer noch mehr haben kann.“
Mama nimmt die beiden Wunschzettel an sich. „Genug gibt es schon. Und die glücklichsten Menschen sind oft die, die ein ganz kleines Genug besitzen.“
„Wie meinst du das?“, fragt Lena und schaut Mama an.
„Nun das ist ganz einfach. Erinnerst du dich noch an Uroma Gerda?“ Lena nickt. Vor allem an die runzeligen Hände erinnert sie sich und an die Augen, die nicht mehr gut gesehen haben aber irgendwie doch alles wahrgenommen haben, was wichtig war.
„Als die Uroma ein Kind war, da war Krieg. Ein großer Krieg. Einer, bei dem die ganze Welt verrückt geworden ist. Und die Menschen hatten wenig. Die Eltern von Uroma Gerda hatten ihr Haus verloren. Durch eine Bombe. Alles war weg. Einfach alles. Von einem Tag auf den anderen. Sie mussten zu einer Tante ziehen. Das Haus war zu klein für so viele Menschen und das Essen war immer zu wenig. Und an Weihnachten gab es für jedes Kind genau ein Geschenk.“
„Eins nur?“, ruft Lena erschrocken. „Aber dann wenigstens ein Teures!“
Mama schüttelt den Kopf. „Ganz im Gegenteil. Jedes Kind bekam eine Orange.“
Max und Lena sind entsetzt. „Da war das Christkind aber geizig.“
Mama lächelt. „Glaubt ihr? Die Menschen waren arm. Es war so viel Not auf der Welt. Ich glaube, da hat auch das Christkind nicht genug gehabt bei so viel Elend und Leid. Und wisst ihr, was Uroma Gerda mir immer erzählt hat? Dass sie sich über die Orange so gefreut hat, als ob das Christkind ihr ein ganzes Puppenhaus gebracht hätte.“
Lena betrachtet ihren Wunschzettel. „Wie ist das denn heute an den Orten, an denen Krieg ist?“, fragt sie. „Hat das Christkind da denn genug für die Menschen?“
Traurig schüttelt Mama den Kopf. „Leider gibt es auch heute auf der Welt noch viele Orte, an denen die Menschen nicht genug haben. Und an anderen Orten auf der Welt haben die Menschen viel mehr als sie brauchen.“
„Ich glaube, ich habe wirklich genug.“, sagt Lena. „Eigentlich sogar mehr als genug.“
Sie überfliegt ihren Wunschzettel. „Meinst du, wenn ich mir hier weniger wünsche, hat das Christkind die Möglichkeit, anderswo mehr zu geben?“
Mama legt den Kopf wieder schief. „Ich glaube, dass es auf dieser Welt für alle genug geben könnte. Manch einer müsste nur etwas abgeben, damit andere etwas mehr bekommen könnten.“
Lena schnaubt. „Zum Beispiel Lukas.“
Mama lacht. „Lukasse gibt es viele auf der Welt. Und wir selbst haben doch auch mehr wie genug.“
Neben Lena beginnt Max Wünsche durchzustreichen. „Ich habe ganz viel, das wünsch ich mir eigentlich gar nicht so dringend.“, sagt er.
Auch Lena betrachtet ihre Liste. „Ich glaub, bei mir ist das auch so. Eigentlich sind fünf Sachen auch genug.“
Mama lächelt. „Aber wisst ihr, wovon man wirklich nicht genug haben kann?“
Max und Lena schütteln den Kopf.
„Von Umarmungen.“, sagt Mama und schließt die beiden fest in ihre Arme.